Mein chinesisches Tagebuch

Mein chinesisches Tagebuch

Impressionen eines Begegnungsprojektes
Aus Anlass des 20. Jahrestages der Begründung der Städtepartnerschaft Hamburg-Shanghai reiste ich vom 24. Mai bis 3. Juni 2006 mit meinem Partner Stephan von Löwis of Menar vom Hamburger "KinderKinder e.V." und unseren Ehefrauen nach China. Die Reise wurde von Stephans Verein geplant, von der Hamburger Kulturbehörde unterstützt und fand auf Einladung der Deutschen Schule Shanghai statt.
Höhepunkt unseres Projektes war die Premiere der deutsch-chinesischen Fassung meines Singspiels "Rolfs Vogelhochzeit", vorgetragen von Kindern der SISU-Huang Pu Foreign Language School und der Deutschen Schule Shanghai, begleitet von vier Schülerinnen der Mittelschule des Shanghaier Konservatoriums.

Die Ankunft
Der Flieger ist gelandet, die Knochen neu sortiert, von einer Elternvertreterin, Frau Feldbrugge, liebevoll begrüßt, die Koffer an den freundlicherweise von Volkswagen gesponserten Fahrer übergeben, auf zur Transrapidstation. Mit beeindruckenden 430 Sachen und auffallend wenigen Fahrgästen geht es bis an den Rand der Innenstadt.
Das wäre schon in Deutschland merkwürdig, in Shanghai erscheint es geradezu paradox. Denn da, wo der Transrapid uns nach 20 Minuten ausspuckt, beginnt der Wahnsinnsverkehr dieser Supermetropole erst richtig.

Nun sind wir also mittendrin im Gedränge und Gehupe, im Warten und Schleichen durch die unüberschaubar scheinende Wolkenkratzerwelt. Acht Tage lang werden wir uns so fortbewegen und es bis zum Schluss nicht fassen, dass hier anscheinend so wenige Unfälle passieren. Die Ankunft im Hotel in der vergleichsweise beschaulichen, durch Platanen-Alleen beschatteten "French Concession" ist wahrhaft erleichternd, unser Fahrer kommt eine Stunde später mit unserem Gepäck. (Vielleicht doch nicht so schlecht, dieser Transrapid?)

Erste Begegnung
Der erste Abend: Unsere liebenswerte und zuverlässige Übersetzerin Lisa hilft uns bei der ersten Begegnung mit unseren chinesischen Partnern.
Wir sitzen um einen runden Tisch in einem angenehmen Restaurant, tauschen in aller Förmlichkeit unsere Visitenkarten aus und sind uns bei einem vielseitigen und (wie immer in Shanghai) mehr als reichlichen Essen bald in allen wesentlichen Punkten der Zeitplanung einig - aber was heißt das in China? Verständigung ist offenbar selbst unter Chinesen eine äußerst sensible Angelegenheit, ein Kopfnicken ist noch lange kein endgültiges Ja und europäische Handzeichen haben hier so gut wie keine Bedeutung.
Gut, das wir unsere Übersetzerin haben, noch besser, dass sie für einige Zeit inHamburg gelebt hat, sie versteht darum nicht nur unsere Sprache, sondern auch die deutsche Denkart.

Neben den Organisatoren sitzt am Tisch in leicht geduckter Haltung und lange schweigen der Choreograph des Fernseh-Kinderballetts "Little Screen Stars Arts Troupe", Mr. Zou, ein "schlummernder Riese", wie sich bald zeigen wird.
Sobald unser Gespräch auf die tänzerische Umsetzung meiner drei Lieder für das Vorprogramm kommt, steht er auf und entpuppt sich als überaus beweglicher und ausdrucksvoller Tänzer. Dass er sich zusammen mit unseren deutschen Partnern die Lieder "Kinder, macht euch startbereit", "Starke Kinder" und "Wir sind Kinder" ausgesucht hat, drei meiner Lieder, die vor kindlichem Selbstbewusstsein gegenüber der Erwachsenenwelt nur so strotzen, nötigt mir bis heute manchen Respekt ab, denn ich weiß heute mehr über die Grenzen dessen, was in China auf einer Bühne gesagt und gesungen werden kann.

Unsere Fotoimpressionen findet ihr in der Bildergalerie.


Besuch in der Deutschen Schule
"Irgendwo da hinten muss sie doch sein, und so klein ist sie ja wohl auch nicht!" Unser Fahrer, der im dicksten Verkehrsgetümmel von Shanghai keine Miene verzieht, zeigt nun am Rande der Stadt (gibt es den überhaupt?) doch Nerven. Aber was tun, wenn nicht mal die Polizei den Weg weiß, das aber nicht einfach so zugeben kann. (Schließlich ist man ja Polizei!)
So lernen wir gut 15 Kilometer vor der City, durch falsches Abbiegen an einer großen Kreuzung, etwas vom einfachen China kennen. Ein Seitenblick in die Nebenstraßen lässt schnell erkennen, wie weit in diesem Land die Lebensumstände auseinanderklaffen.

Schließlich liegt sie dann doch noch vor uns: Die Deutsche Schule Shanghai, ein großer, moderner Gebäudekomplex, den man sich mit den Shanghai-Franzosen aufgeteilt hat. Die Schülerzahl ist in zehn Jahren um ein Vielfaches gewachsen und schon wieder beschäftigt man sich mit einem Erweiterungsbau. Auch hier unverkennbare Zeichen des Booms und schnell wachsender Wohlstandsinseln. Hier mangelt des den Schülern offenbar an nichts, was man durch gute Architektur und großzügige Ausstattung vorgeben kann, auch vom menschlichen Klima an der Schule hören wir nur das Beste (Gab es da ein gewisses Knirschen im Verhältnis zu den Franzosen?). Manches Kind, mancher Lehrer in Deutschland kann von solchen Schulbedingungen nur träumen.

Ein Wiedersehen mit zwei Weggefährten macht die erste Stunde des Besuchs besonders herzlich: Der Leiter der Grundschule ist Christofer Seyd, ein guter Freund aus dem "Elbkinderland", der Gründer des Buxtehuder Chors "Die Stieglitze". Er hat sich schon bei seiner Abreise aus Deutschland vor vier Jahren vorgenommen, dass wir uns in China wiedersehen - und er hat Wort gehalten. Der Leiter der gesamten Schule ist Jürgen Schumann, den ich zuletzt etwa 1985 als Leiter der Deutschen Schule in Stockholm bei meinem ersten musikalischen Auslandsaufenthalt kennengelernt habe. Er ist inzwischen weit herumgekommen und hat mit seiner Frau viel zu erzählen über unsere Landsleute im Ausland, dazu wird er beim heutigen Abendessen viel Gelegenheit haben.

Die erste Probe
Die deutschen Kinder kommen wie gute alte Freunde auf mich zugestürmt, die chinesischen stehen (und das wird noch öfter so sein) geduldig in Zweierreihe angefasst und warten auf ein Signal ihrer Lehrerinnen. Dann kommen auch sie ohne große Scheu und neugierig auf mich und meine Gitarre zu, die sie mindestens so interessiert wie der Mann aus Hamburg. Die Schüler der Oberstufe haben eine Mikroanlage installiert, ich erlebe wieder einmal dieses fruchtbare, unkomplizierte Miteinander der Jahrgangsstufen, wie ich es schon bei meinem Besuch in Guatemala vor drei Jahren 2003 ganz selbstverständlich vorfand.


Die Einstudierung der Vogelhochzeit, zweisprachig mit verlängerten Strophen und Refrains, haben die Gruppen ganz unabhängig voneinander vorgenommen. Ein spannender Moment, als die ersten Töne von traditionellen chinesischen Instrumenten – Pipa, ErHu, Yang Qin und Bambusflöte - erklingen, bestens vorbereitet von vier jugendlichen Schülerinnen der Mittelschule des Shanghaier Konservatoriums mit ihrer Lehrerin Frau Wang. Die deutschen Kinder beginnen ihr recht freies Rollenspiel, die chinesischen eine ausgefeilte, kunstvolle Tanzdarbietung. So wird es von Lied zu Lied weitergehen, eine Doppelinszenierung bei der der Blick immer wieder hin und her wandert, wo es immer spannend bleibt, wie die Kinder sich in ihre Rollen und in die Szenen hineinversetzen.
Die Längen der Lieder werden noch in der Probe einmal überarbeitet, die Auf- und Abgänge sowie die Einsätze der Chorkinder und Solisten auf den Punkt gebracht. Das alles geschieht während vier Stunden mit großer Konzentration, die mit dieser Altersstufe bei uns zu Hause alles andere als selbstverständlich wäre.

Das Miteinander der deutschen und chinesischen Kinder geht über die Sing- und Spielsituation kaum hinaus, denn die Sprachbarriere liegt hier nicht nur für die Erwachsenen sehr hoch. Das, was wir miteinander erleben, geht dennoch sehr weit, denn in der Geschichte von der Vogelhochzeit geht es immer wieder um das Familienleben, um das Miteinander der Eltern mit ihrem Kind, um die Verwandtschaft und die Freunde des Vogelkindes. Hier gelingt viel Gemeinsamkeit und spielerisches Aufeinandereingehen und Voneinanderlernen.

Shanghai-Talk
Im modernen multifunktionellen Forum der Schule versammeln sich am Abend jene, die mehr über den Besucher aus Shanghais Partnerstadt erfahren wollen. Drei Schülerinnen der elften Klassen haben sich einen facettenreichen Fragenkatalog erarbeitet, in dem ihre von meinen Liedern durchwobene Kindheit oft der Ausgangspunkt zu einer nun recht erwachsenen Neugierde ist. Der künstlerische, aber auch die wirtschaftlichen Hintergründe meiner Arbeit, werden ungeniert angesprochen, Erfolg ist hier in Shanghai nichts, was man zu verbergen sucht. Ich freue mich über die Offenheit, mit der auch persönliche, familiäre und Dinge ausgeleuchtet werden. So wird der Besucher für die Schulgemeinschaft fern der Heimat vertrauter, als es in Deutschland möglich wäre. Noch persönlicher und sehr freundschaftlich wird es dann bei der Einladung der Schulleitung zu einem sehr feinen Essen am "Jungfernstieg" Shanghais, "The Bund".

 

The Bund
"Mehr ein Themenpark als eine City" hat der Autor eines aktuellen Reiseführers das Zentrum von Shanghai genannt. Auf der abendlichen Dachterrasse eines offenbar sehr angesagten Restaurants kann ich dem nur zustimmen. Man fühlt sich hoch über der Wirklichkeit und nimmt Teil an all den wahr gewordenen Architektenträumen, für die sie in "Good Old Europe" kaum eine Realisierungschance hätten. Der Huangpu Fluss ist die aus dem weit draußen liegenden Seehafen abzweigende wirtschaftliche Lebensader der Stadt mit ihrer ganzen Region, die Elbe der Chinesen.
Erinnerungen an den Hamburger Hafen wollen trotzdem kaum aufkommen, denn der Blick vom feinen, in seiner Architektur kolonial geprägten "Bund" hinüber in die neue Skyline von Pudong sucht in seinem utopischen Formen- und Farbenspiel seinesgleichen. Chinesische Experimentierfreude funkelt und strahlt in beleuchteten und sich im Lichterspiel ständig verändernden Fassaden und steigert sich, wenn diese gegen 23 Uhr dunkel werden, zu einer gigantischen Lasershow vom Pudong-Ufer im Rhythmus der Disco-Music der Restaurants und Clubs am gegenüberliegenden Bund.

Verfolgungsjagd über den Fake-Market
Dass Shanghai eine Stadt der großen Gegensätze ist, dass man hier ebenso wie in Paris oder Berlin, aber auch ganz einfach chinesisch einkaufen und essen kann, das wird uns ab jetzt mit jedem Stadtbummel offenbarer. Dass man hier auf dem Preisniveau der Champs-Élysées oder der Friedrichstraße und zu den entsprechenden Wohnungsmieten ebenso leben kann wie in einer armseligen Hütte, die um Punkt zwölf mit ein paar Stühlen vor dem Haus zum Mittagsimbiss wird oder von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr abends zu einer Open-Air-Motorradwerkstatt, daran hat sich der Blick nach ein paar Tagen fast schon gewöhnt.
Nicht gewöhnen möchte ich mich an die Verfolgungsjagd über den berühmt-berüchtigten "Fake-Market", wo es zu Spottpreisen Uhren und Schmuck, Handtaschen und Kleidung von allen Nobelmarken der wohlhabenden Welt gibt, geschickt gefälscht und so aufdringlich angeboten, dass mein Schritt immer schneller wird. Die Händler kleben mir umso mehr an den Füßen, sie wollen einfach nicht glauben, dass mich nur die Neugierde hierher getrieben hat. Besonders auch die Neugierde auf das riesige Angebot von top-aktuellen CDs und DVDs mit Weltstars und Blockbuster-Hollywood-Filmen. Wird es gelingen, in diesem großen Land dem Respekt vor geistigem Eigentum den Rang zu geben, der jedem kreativen Menschen gebührt? Immerhin: Der Fälschermarkt soll inzwischen geschlossen sein - soll.

Balsam für die Seele ist danach ein Bummel durch das Viertel rund um das berühmte, große Musik-Konservatorium von Shanghai. So viele gut sortierte und fachkundig geführte Musikaliengeschäfte mit einem kulturhungrigen Studentenpublikum sieht man in Deutschland an keinem Ort. Mein Blick bleibt noch lange in der Tür des kleinen Klaviergeschäfts hängen, wo zwischen zwei Kunden jeweils der Klavierunterricht für einzelne Kinder weitergeht. Europäische Musik, eine der ganz großen Leidenschaften der bessergestellten Chinesen, von denen es immer mehr gibt.

Einmal noch nach Bombay
Am Abend des dritten Tages unseres Besuchs steht mein Solo-Konzert in der Deutschen Schule auf dem Programm. Wieder besorgen die Schüler der Oberstufe die Beschallungstechnik, und sie machen nach kurzer Einarbeitung einen wirklich guten Job bei den akustisch nicht ganz einfachen Verhältnissen. Ich beginne damit, den Kindern und Erwachsenen zu erzählen, von wem und in welchem Zusammenhang ich zum ersten Mal von Shanghai gehört habe. Es war mein Vater, der uns als Seemann das Lied "Einmal noch nach Bombay" von Richard Germer vorgesungen hat. Gern würde ich den Text einmal wörtlich nehmen:

Einmal noch nach Bombay,
einmal nach Shanghai,
einmal noch nach Rio,
einmal nach Hawai, nach Hawai.
Einmal durch den Suez
und durch den Panama.
Wieder nach St. Pauli,
Hamburg-Altona!

An diesem Abend machen wir eine kleine Zeitreise durch meine Arbeit als Songwriter, Kinder- und Elternliedermacher. So weit weg von zu Hause fließen die Lieder meines Lebens leichter ineinander, sind die Erwartungen weniger hart geprägt, zählt der Eindruck vom ganzen Menschen mehr als das Image. Überwältigt bin ich von der Begeisterung der Jugendlichen, die die Lieder ihrer Kindheit lauthals mitsingen und in ihnen geradezu baden. Glücklich beseelt beenden wir den Abend bei einem Gläschen in der French Concession, nah bei unserem Hotel, einem Monument der ersten, fremdbestimmten Boomphase dieser Stadt, gebaut auf den gigantischen Gewinnen des Opium- und Teehandels, später gewandelt durch ein zunehmendes Selbstbewusstsein Chinas gegenüber den Kolonialmächten.


Hauptprobe im Theater
Ich wüsste in unserem Land nicht viele Häuser, in denen man sich musikalischer Kinderprogramme mit so viel Professionalität und ohne jeden Dünkel annimmt wie im Yihai-Theater. Das Theater, ein Haus für etwa 700 Gäste, hat bei bester Sicht für alle Besucher technisch und personell alles, was ein Theater bieten kann.
Ich betrete die Bühne seitlich durch den Vorhang und mir stockt der Atem: Die erste Tanzgruppe des Vorprogramms, ca. 20 Mädchen im Alter von etwa 10 Jahren, ist keilförmig aufgestellt, vor ihnen gibt Mr. Zou, der "schlummernde Riese" aus unserer Vorbesprechung am ersten Abend mit seiner feinen Dynamik die letzten Anweisungen. Der Titel "Das Sternenschiff" wird von der Regie abgefahren, das Vorspiel des Halbplaybacks beginnt, das "Raumschiff Erde" funkt SOS... Kein Tänzer hat mich kommen sehen, ich stehe am Mikrofon und setze zum Singen an, bekomme aber kaum einen Ton heraus. Die Szene scheint einfach nicht wahr zu sein. Da reise ich um die halbe Erde in ein Land, das wie kaum ein zweites im Aufbruch ist, um das Bild unserer Erde zu verändern und soll singen: "Kinder macht euch startbereit für die Reise durch die Zeit, bald ist unser Sternenschiff fest in eurem Griff." Bei der zweiten Zeile habe ich mich gefangen und genieße einen der bewegendsten Momente meines Lebens auf einer Bühne.

Der Tanz ist perfektioniertes Kinder-Show-Ballett (leider ohne Jungen), hat mit dem Inhalt des Liedes aus meiner Sicht wenig zu tun, aber was wissen wir schon von den Feinheiten chinesischer Inszenierungen? Der Eindruck, eine der bewegendsten Stunden meiner Arbeit mit Kindern zu erleben, wiederholt sich bei den Liedern "Wir sind Kinder, der Stoff aus dem die Zukunft ist" und "Starke Kinder". Ähnlich ist es mir nur 1990 bei meinen Konzerten in Grevesmühlen, Schwerin und Erfurt unmittelbar nach der Wende in der DDR gegangen.

Die Probe mit den "Vogelhochzeit" - Gruppen geht mit den üblichen kleinen Übersetzungshaken gut über die Bühne, die Vorprobe in der Schule hat sich gelohnt. Die Kinder sind aufgeregt, bei der Generalprobe am nächsten Morgen haben wir nach einer Teamgeist-Ansage wieder diese erstaunliche Disziplin, von der ich am liebsten einiges nach Deutschland importieren möchte. Meine Partnerin in der Rolle der chinesischen Erzählerin, die Schulsekretärin Frau Wei Wang, findet mit mir schnell zu einem sehr freundschaftlichen und konstruktiven Miteinander. Ich kann kaum glauben, dass sie zum ersten Mal auf einer Bühne steht. Sie hilft mir auch, die volkstümliche chinesische Nationalhymne "Moli Hua", das Jasmin-Lied, einigermaßen verständlich vorzutragen. Nun habe ich in der heißen Phase des Projektes zwei Übersetzerinnen, eine direkt an meiner Seite, eine im Team der Schule. So kommen wir mit dem kleinen Orchester, dem Chor und den beiden Spielgruppen bestens über die Klippen, die bei einem Projekt dieser Größenordnung nun mal dazugehören.

 

Die Premiere der Vogelhochzeit
"Der Weg ist das Ziel" - wo könnte das mehr gelten als hier in China. Alle, gemeinsam und getrennt voneinander, alle Telefonate, die ersten chinesischen Schriftzeichen und Töne meiner per E-Mail, die gemeinsame Vorfreude mit Stephan von Vorbereitungen Lieder Löwis an diesem einmaligen Projekt, für mich auch das mühsame Einstudieren des Jasmin-Liedes bis kurz vor der Landung, das gegenseitige Beschnuppern und Vertrauenfassen in den Proben, all das kann eine noch so gelungene Premiere nicht überbieten. Aber ohne dieses Ziel hätte es all die Spannung und Vorfreude nicht gegeben, nicht bei uns und sicherlich auch nicht bei den Kindern und ihren Betreuern.


Zum Glück gelingt uns die Premiere am 20. "Geburtstag" der Städtepartnerschaft Hamburg-Shanghai. Sie beginnt allerdings mit einem Katapultstart der Musik aus der Tonregie, der uns alle völlig überrascht, aber nicht verunsichert. Mit den vielen kleinen Verbesserungen aus den Proben incl. einiger Kürzungen (die immer auch eine Falle sein können), bringen wir das große Gemeinschaftswerk über die Bühne. Das Theater-Team überrascht uns mit einigen märchenhaften Lichtstimmungen, die Kinder sind in Top-Form. Das Publikum erlebt einen Ausschnitt aus dem Kinder- und Familienleben der beiden Kulturen: Ein unbeschwertes, teilweise übermütiges Rollenspiel der deutschen Vogelfamilie mit vielen gekonnt gespielten Nebenrollen und ein bis in die Fingerspitzen fein einstudiertes Tanzspiel der immerzu lächelnden chinesischen Kinder, die sich in den letzten vier Tagen noch einige Feinheiten in der Darstellung und der Nähe zueinander erarbeitet haben.


Die Mütter hinter der Bühne leisten, unsichtbar für das Publikum, bei 150 Mitwirkenden ganz Erstaunliches. Auch ihnen gilt der große Applaus, nachdem wir mit allen Mitwirkenden auf der Bühne noch einmal das Jasmin-Lied angestimmt haben. Dabei eine farbenprächtige, traditionelle chinesische Jacke als Geschenk anzunehmen und zu tragen, macht den Abschluss unseres Musikabenteuers für mich umso unvergesslicher. Mit den chinesischen Bühnenarbeitern rauche ich nach dem gemeinsamen Abschiedsessen als Zeichen der Solidarität meine erste Zigarette nach 25 Jahren, es wird für weitere 25 Jahre die letzte gewesen sein.


Was bleibt?
Mit privaten und kulturellen Begegnungen und mit einem kleinen Sightseeing-Programm klingen unsere chinesischen Tage aus. Dazu gehören Museumsbesuche und kleine Ausflüge an den Rand der Boom-Town, auf dem Huangpu-Fluss oder in die idyllische Wasserstadt Zhouzhuan. Einige Eindrücke bleiben wie Blitzlichtaufnahmen im Gedächtnis:
Sei es die chinesische Mittagsmüdigkeit, die z.T. ganz ungeniert ausgelebt wird, auf einem Stuhl mitten auf dem Bürgersteig oder auch mit dem Kopf auf dem Tresen einer schicken Boutique, sei es die Pyjama-Lust, die auch eine Not sein mag, man sieht jedenfalls Chinesen im Pyjama auch beim Einkauf mitten in der City, oder sei es die Sauberkeit der Stadt, für die geradezu akribisch gesorgt wird. Bedrückend bleibt die Bettelei von Müttern mit Hilfe ihrer kleinen Kinder, die auf das "Liebsein und Danke sagen" und "Küsschen geben" geradezu dressiert werden. In ganzen Gruppen tauchen sie bis spät in die Nacht da auf, wo das Geld locker sitzt. Erinnerungen an die Hamburger City werden wach, wo das Betteln allerdings ganz andere Ausmaße angenommen hat. Das schlechte Gewissen als Preis unserer bevorzugten Lebensweise? Gibt es eine für uns lebbare Alternative? Wenn ja, hätten wir den Mut, sie zu leben? Was würde sich dadurch an den Umständen ändern?

Shanghai verabschiedet sich von uns mit vielen Widersprüchen, die überall zutage treten zwischen westlicher und fernöstlicher Lebensart und Architektur, zwischen Reichtum und Armut, zwischen Liberalität und Staatskontrolle. Wir haben kindliche und erwachsene Musikbegeisterung und große Disziplin kennen gelernt. Wir haben versucht, gute kulturelle Botschafter unserer Stadt zu sein. Die Möglichkeiten und Grenzen eines Miteinander von zwei Kulturen in zwei Sprachen sind uns deutlich geworden. Die deutsche Gemeinschaft in Shanghai hat uns mit aller Herzlichkeit aufgenommen und uns doch viele Freiräume gelassen, um der eigenen Neugier zu folgen. Eine Frage nehme ich ganz persönlich mit auf den Heimflug nach Deutschland:
In China kannte man bisher keine Lieder, keine kindlichen Singspiele von der Art, wie sie uns so vertraut sind. Gibt es darum schon bald ein Wiedersehen? Eine Einladung der Deutschen Schule in Hongkong liegt vor...