No worries - mein australisches Tagebuch

No worries - mein australisches Tagebuch

Wann habe ich das erste Mal von Australien gehört? Vermutlich war es in meiner Kindheit anlässlich der Olympischen Spiele 1956 in Melbourne. Der Kontinent scheint diese Art von Promotion dringend zu brauchen, um vom Rest der Welt nicht gänzlich übersehen zu werden. Mein Bruder Pit, der in Australien für den Fernsehsender VOX eine Reihe von Naturfilmen gedreht hat, nannte mir vor ein paar Jahren viele weniger sportliche aber um so verlockendere Gründe, mich für das Land am anderen Ende der Welt zu interessieren. Den Ausschlag aber gab schließlich Gudrun Lundie, die mit ihrem Mann Sven und Töchterchen Annik seit 1998 in Sydney lebt. Ihr Hamburger Chor "Mixed Voices" hat bereits mehrfach mit mir auf der Bühne gestanden; ich kenne die Sängerinnen und Sänger seit ihrer Kindheit, wo sie öfters im Lokstedter Schülerchor unter der Leitung von Gudruns Vater Hans Struck in Hamburg mit mir gesungen haben. Kurz vor Weihnachten 1998 fiel der Entschluß, eine Australien-tournee zu machen. Es folgten viele organisatorische Vorbereitungen, die vor allem Gudrun vorantrieb, die Suche nach Veranstaltungspartnern vor Ort und Geldgebern in Deutschland. Schließlich kam die gute Nachricht aus Sydney, dass der Deutsche Musikrat die Reise des Chors (nicht meine) finanziell unterstützt. Von da an hieß es proben, viele technische Reisedetails organisieren, die Gruppe zusammenhalten und sich von vielen anderen Terminen, die meinen Kalender (vor allem wegen des neuen Albums "Kinder werden groß") ungewöhnlich prall füllten, nicht irremachen zu lassen: Australien wir kommen!

 

Tag 1: 8. November
Es ist tatsächlich so weit. Alle Reisen, Interviews, Fernseh- und Rundfunkauftritte, Konzerte, Besprechungen, Verhandlungen sind geschafft. Ich fühle mich fitter als befürchtet und los geht's mit dem dazugehörigen Herzklopfen. Tschüs Moni! Mein Lied "Ganz nah" gilt hoffentlich auch so weit weg, da unten auf der Erdkugel! Aber: "Die Welt ist so klein, wir sehn uns wieder..." Ruhiger Flug nach Frankfurt, erstaunlicherweise kein Übergepäck zu berappen trotz schwerer CD- und Notenfracht. Frankfurter Flughafen Terminal B: Das internationale Völkchen verstärkt mein Reisefieber. Wolf Biermanns Artikel in der Welt zum Thema deutsche Leitkultur beeindruckt mich tief, vor allem durch seine schier unglaubliche Sprachkraft, aber auch durch eine intellektuelle, erbarmungslos entlarvende Schärfe, wie immer bei Biermann mit viel Herzblut, das ich in der intellektuellen Szene sonst so oft vermisse. Das hat die CDU mit ihrer Kampagne wenigstens geschafft: Wer sind wir Deutschen? Woher kommen wir? Wo wollen wir hin? Wer wollen wir sein? Wer sollte sich uns in welchem Maße anpassen? Warum? Wer darf dafür die Maßstäbe setzen? Es wird darüber heftig diskutiert und man höre und staune: Wolf Biermann ist bei dieser Gelegenheit immerhin "Chefkulturkorrespondent" der Welt geworden. Hätte er sich das selber vor ein paar Jahren vorstellen können? Erstaunen: Nicht die Lufthansa fliegt mich nach Australien sondern, im Rahmen der Star-Allianz, die hochgelobte "Singapur-Airlines", freundlichste und sicherste Fluggesellschaft der Erde (wäre da bloß nicht leider gerade ein Jumbo in Thailand beim irrtümlichen Start auf einer in Reparatur befindlichen Landebahn verunglückt...). Eine bezaubernde Atmosphäre südostasiatischer Gelassenheit und Gastfreundlichkeit empfängt uns an Bord und hält ohne Einschränkung durch bis nach Australien - einschließlich der Launch im Flughafen von Singapur ("To keep the atmosphere of this launch, we ask our guest to talk decently on the phone"). Ein Morgen in Singapur: Leider nur im Terminal - ein Riesengebäude mit allem, was der Weltreisende zum Zwischenaufenthalt braucht. Etwas steril, aber nicht ungemütlich. Ich habe im Flugzeug noch kein Auge zugemacht, es gibt so viel zu lesen, anzuschauen und für Australien vorzubereiten. Um mich herum war alles im Tiefschlaf oder am Videoschirm. Die Zeit verging für mich im wahrsten Sinne wie im Fluge.

 



Tag 2: 9. November
Der erste unverkennbare Australier. Habe ich etwa Vorurteile? Warum soll man nicht barfuß mit hoch gelegten Beinen den Flug genießen und über einen Videofilm so laut lachen, dass sich alle mitfreuen können? Ein illustriertes Schülerbuch über die Geschichte Singapurs interessiert mich. Ein immer noch junger Staat mit vielen Rassen und Kulturen, ob da wohl auch jemand von Leitkultur spricht? Wir überfliegen das süd-chinesische Meer, nun bis Australien nur noch Wasser, Wasser, Wasser. Der Kontinent stellt sich nach gut 4 Stunden als unendlich weite, überwiegend rote Landmasse vor. Irgendwo da unten muß der legendäre Ayers Rock sein, das Heiligtum "Uluru" der Aborigines. Dann der Indische Ozean bei Adelaide, endlich Melbourne. Eine 24-Stunden-Reise geht zu Ende, ohne irgendein Problem. Aussteigen, Moni anrufen, SMS an Alexander. Ich bin wirklich da, "down under", müde, bettreif, glücklich. Schade, der Netzadapter für den Laptop, auf dem u.a. dieses Tagebuch enstehen soll, paßt nicht. Zurück zum Flughafen, kurz vor Ladenschluss - geschafft! Der Mensch steht wieder unter Strom, wirklich glücklich?

 



Tag 3: 10. November
Aufstehen, 11 Uhr, Frühstück nur bis 9 Uhr! "Did you sleep over, Sir?" Rechts einsteigen, links fahren, Sonnenstand-Peilung andersrum, Autoschlüssel dreht andersrum. Der Scheibenwischerhebel ist nicht der Blinker! Links schalten - alles andersrum, alles verkehrt? Bei uns zu Hause - alles richtig?
Links im Süden keine Sonne aber Melbournes Skyline - New York? Chicago? Frankfurt? Typisch Australien? Ich werde in fünf Tagen näher dran und mittendrin sein, jetzt geht's erst mal auf die "Great-Ocean-Road" Richtung Lorne, wo ich meine ersten Workshops haben werde.
Andere Wolken , anderes Licht. Viele Autos, kein Stress - Tempo 110 max. für alle. Wo sind die großen, schnellen Limousinen? Wo sind sie, die aggresiven Drängler? Der Eindruck setzt sich fort: Es gibt zumindest hier an der Küste viel weniger sichtbaren Großwohlstand, viel weniger soziale Kontraste.
Lange Brandung, jede Menge Surfer, wie viele werden es erst im Sommer sein? (Die Hochsaison beginnt, wie ich in Lorne erfahre, am Tag nach Weihnachten). Bei Geelong Abstecher nach Queenscliff, legendärer Marinestützpunkt an einem von Seefahrern gefürchteten Küstenabschnitt. Leider keine Zeit für die Fähre zur anderen Seite der Philipps Bay. Der Ort hat etwas beruhigend altmodisches, gut erhaltene viktorianische Hotels, wäre viel mehr als eine Stunde Aufenthalt wert.

 

 

Es beginnt zu regnen. So war das nicht abgemacht! Nur kurze Schauer - danke! Grandiose Blicke auf endlose Strände mit immer neuen Surferschwärmen, die geduldig auf ihre Superwelle warten. Ankunft in Lorne, Erskine House. Ein altes, ehrwürdiges Erholungszentrum mit kleinen Holzhaus-Wohnungen und großzügigen Versammlungsräumen.

 

 

Abendessen mit 120 Lehrerinnen und Lehrern aus Viktoria, schnell die Jacke ausziehen, so formell ist man hier nicht. Das Goethe Institut Melbourne lädt einmal im Jahr zur Fortbildung ein. Es wird munter drauflos begrüßt und geplaudert. Das Land ist riesengroß, bei solchen Entfernungen braucht man derartige Anlässe, um in Kontakt zu bleiben. "Deutsch sein" hier und bei uns, Stoff für lange Gespräche. "Musik für Kinder" auch ein gutes Thema, "Kinder, Eltern, Lehrer, Schule in Australien", noch spannender. Der Gast aus Hamburg, mit dem Rucksack voller Lieder, wartet bis alle gegessen haben und singt eine Stunde später als geplant - no worries! Offene Gesichter, mitsingen ist hier keine Frage der Überwindung. Gegen Mitternacht gehen alle beschwingt, einige auch etwas bewegt ins Bett. Jetzt bin ich richtig da.



Tag 4: 11. November
Das Frühstück im Erskine House ist reichhaltig wie in England. Dann der erste Workshop. Nicht meiner, sondern der von Konrad Frankhäuser vom österreichischen Kultusministerium, Fachmann für Kommunikation. Er gibt mir ein paar interessante Einblicke in die wissenschaftliche Begründung für Erfahrungen, die auch ich seit Jahren mache: Der Mensch, das Kind, wir alle lernen erheblich mehr und unvergesslicher, wenn wir mit allen Sinnen lernen. Musik- und Sprachunterricht sollten darum eng verknüpft werden. Die Grundvoraussetzungen für meine Angebote sind damit also auch wissenschaftlich abgesegnet. Mein eigener Workshop beginnt nach einer viertel Stunde Verzögerung zunächst mit einer Gedenkminute für die australischen Gefallenen des ersten Weltkrieges. Mir geht dabei meine Hymne "Deutschland in Europa" durch den Kopf. Ich wage die Welturaufführung vor diesem Kreise am anderen Ende der Welt. Die Resonanz ist bewegend.

Im Workshop sofort mitsingende, für alles offene Lehrerinnen, Lehrer und Studenten, die eine Lehrerstelle suchen. Auch dafür ist dieses Zusammentreffen ein viel versprechender "Markt". Schon beim ersten Lied "Ich kenn ein Haus" keine abwägende Zurückhaltung, sondern interessierte, teilweise leuchtende Augen; das Lied mit dem langen Echo ist ein guter Anfang. Auch das Küken spielen im Vogelei wird ohne Zögern von (fast) allen mitgemacht. Wir lernen gemeinsam mit allen Sinnen, um es den Kindern weitergeben zu können. Besonders beliebt: Das Aufstehspiel nach Geburtstagsmonaten mit der Jahresuhr und der Wechselgesang in Gruppen mit dem Lied "Du gehörst zu uns". Wir lachen viel und spüren bei "Sieh nur die Sterne" aus der Vogelhochzeit gemeinsame Elterngefühle. Nach dem Workshop ein paar kurze, herzliche Abschiedsgespräche, der nächste Workshop beginnt gleich. Wir sehen uns am 15. November in Melbourne wieder, viele Teilnehmerinnen haben sich das fest vorgenommen, ob sie auch kommen werden? Sie könnten den bisher etwas mageren Zuspruch zu unserem Abendkonzert in ihrem Umfeld pushen. Das Schulkonzert am Nachmittag ist längst ausverkauft.

 



Fünf Stunden Zeit für die Rückfahrt auf der Great Ocean Road. Heute kein Regen, meine Augen freuen sich. Weiß gekleidete Herren haben sich im Bowling-Club versammelt, die Surfer sind wieder in Schwärmen in der Brandung. An der Straße nach Melbourne soll es einen legendären Golfclub geben, auf dessen Platz es außer Golfern auch Kängurus gibt. Ich finde ihn in Anglesea und bin erstaunt, dass es dort nicht einige, sondern Dutzende der Großhüpfer gibt. "Guests are welcome" also kann ich sogar ganz nah ran. Australien pur und ein wunderbarer Golfplatz, der mich in Versuchung bringen könnte.



Den Flug nach Sydney erreiche ich knapp und pustend. Sydney, ich komme! Inzwischen müssten die Mixed Voices mit Ali und Jule längst da sein. Gudrun und Sven holen mich ab, herzliche Begrüßung. Wir nehmen uns eine Stunde Zeit für einen Welcome-Drink unter der berühmten Harbour Bridge, dem "Coathanger" von Sydney. Aus einer spontanen Äußerung im Weihnachtskonzert in Essen wurde diese große Reise, in die Gudrun unendlich viel Energie, Sorgfalt und liebevolle Vorbereitung gesteckt hat. Alles ist bestens durchdacht und von ihr bis ins Detail vorbereitet. Eine Deutsche in Australien, wo man eher die Kunst der gut vorberei-teten Improvisation beherrscht. Eine Nachbildung der "Bounty" (für einen Kinofilm gebaut) läuft unter vollen Segeln in den Hafen ein. Ist das eine Atmosphäre! Maritimer geht's nicht. Zeit für's Hotel, Jetlag vermeiden so gut es geht, normal schlafen gehen, fit bleiben.



Tag 5: 12. November
Die Bandprobe mit Ali und Jule findet im wunderschönen viktorianischen Glebe Neighbourhood-Centre statt, das aber leider sehr heruntergekommen ist. Die Titel sitzen, letzte Abstimmungen mit Gudrun am Akkordeon keine Probleme - "no worries", wie wir es hier immer wieder hören und allmählich auch denken werden.
Wir treffen die Mixed Voices am "Sydney Fishmarket", einem Paradies für alle, die Fisch oder Schalentiere lieben. Man kauft sich aus einem unglaublich reichhaltigen Angebot mehrerer Händler das, worauf man Appetit hat, dann setzt man sich an einen der vielen kleinen Tische an der Wasserkante, bestaunt die beiden ortsansässigen Pelikane, jede Menge Möwen und lässt Sydney auf Leib und Seele einwirken. Nachmittags folgt eine ermutigende Gesamtprobe, danach eine Ablaufbesprechung für die nächsten Tage bei Gudrun. Ihre quicklebendige kleine zweijährige Tochter wird nun zum ersten Mal einige Tage ohne Mama auskommen müssen, zum Glück ist Oma aus Hamburg bei ihr und freut sich auf so viel Zeit mit dem sonst so fernen Enkelkind. Sven Lundie, fährt mich zurück ins Hotel, über die Anzac-Bridge in das faszinierende City Panorama von Sydney. Jetzt tief schlafen, morgen ist der zum Glück nur leichte Jetlag besiegt.

 

 

Tag 6: 13. November
Unser erster Konzerttag. Ein sehr angenehmer, klimatisierter Saal im Civic Centre Ryde. Technik o.k., Kinder zum verlieben süß verkleidet, da müssen begeisterungsfähige Mütter am Werk sein.
Die Lehrerinnen, Ulrike Clarke und Hanni Dibbayawan, sind angenehm locker aber auch erstaunlich gelassen bei allen organisa-torischen Dingen (eben "no worries"). Wir müssen alles selber machen, es gibt außer dem angeheuerten Tonteam keinen Techniker, keinen Ordner, kein Kassenpersonal. Die Gruppe ist motiviert und tatkräftig, ein Dienstplan ist schnell aufgeteilt und gilt ab jetzt während der ganzen Tour. Die Unterstützung der Johannes-Gutenberg-Schule beschränkt sich auf die hervorragende inhaltliche Zusammenarbeit und den Goodwill, unser Konzert zu empfehlen. Der Saal füllt sich angenehm, etwa 400 Personen in fröhlicher Erwartung. Es wird ein herrlich lebendiges Konzert, auch wenn's mit 120 Chorkindern, die nur für 6 Lieder aktiv sind, ein bisschen unruhig wird. Kein Wunder bei Schulkindern aus allen Jahrgängen, einschließlich Pre-School und Kindergarten. Wir sind erleichtert: Die Stimmung des Publikums zeigt uns, dass unser Konzertprogramm ankommt. Es ist kaum zu glauben: Wir singen "In der Weihnachtsbäckerei" und "Die Jahresuhr", der ganze Saal singt mit, will auch hier nicht aufhören und das in Australien, wo die Jahreszeiten für uns auf dem Kopf stehen. Ist Weihnachten hier nicht eine Strandparty? Das traditionelle Kinderlieder-Medley und die musikalischen Hamburg-Grüße der Mixed Voices werden sehr positiv aufgenommen, unsere Heimatstadt hat auch hier ihren Klang.

 

Abendessen beim Inder. Es ist hier in Sydney wirklich alles vertreten, was kochen kann, und die Anzahl der Südhalbkugelmenschen mit allen nur denkbaren asiatischen Gesichtern ist unübersehbar. Wir sind müde, ab in die Unterkünfte bei den Gastfamilien und ins Hotel.



Tag 7: 14. November
Auf dem Plan stehen die Blue Mountains aber es gießt in Strömen. Ich bleibe lieber in Sydney und habe einen ganzen Tag nur für mich allein, ohne Termine, ohne Verpflichtungen, kaum zu fassen. Es regnet anders in Sydney: Weich und überraschend dauerhaft. Zum Glück gibt es viele trockene Bereiche, z.B. den "Australian Geographics" Shop (schade, dass die wunderschönen Bildbände so schwer sind), das "National Maritime Museum" (im Museumsshop wieder so schwere maritime Bücher, die mich ebenso schwer begeistern), das "Queen Victoria Building", dazwischen immer wieder die Mono-Railway und die Metro, dann das gigantische Imax-Kino am Darling Harbour mit einem faszinierenden 3D-Film über die Galapagos Inseln. Ich lerne, dass man am Fish-Market gegen 4pm nichts zu Essen bekommt, es sei denn, man isst den Fisch roh.

 

Aber ein Cappuccino und ein Mars-Riegel an der "Cockle Bay" mit Blick auf die wahnsinnige Skyline von Sydneys City ist auch was Besonderes. In der Hotel-Lobby lese ich noch einmal die Entdeckungsreise von Captain Cooks "Endeavour" nach. Ich staune über den Mut der Besatzung, werde nachdenklich über die Frechheit, das Land zur "terra nullis", also unbesiedelt zu erklären (bei vermutlich 400.000 Aborigines, die sich zunehmend gegen ihre Vertreibung wehren).
Heute geht es ganz früh ins Bett, für morgen ist um 5.45 Uhr ein Maxi-Taxi bestellt. Melbourne ruft mit zwei Konzerten.

Tag 8: 15. November
Das ist keine Musikerzeit. 28 müde Augen fliegen nach Melbourne. Ruhiger Flug, ein wenig dösen und dann: Sonne! Nach zwei regnerischen Tagen in Sydney zeigt sich der australische Frühling von seiner besten Seite - zunächst. Das "Camberwell Centre" ist einladend kühl und gut ausgestattet - wären da nur nicht die unbetretbar schmutzigen Garderoben... Die Mixed Voices sind inzwischen ein eingespieltes Aufbauteam. Dennoch sind wir beim Eintreffen des Kinderchors nicht ganz fertig mit der Bühnentechnik. Das gibt mir die Gelegenheit, mich mit den Kindern anzufreunden. Wir setzen uns im Halbkreis auf den Teppichboden des Foyers. Die Kinder von der "Basewater West Primary School" (ich höre hier zum ersten Mal, dass sie "students" genannt werden) sind offen, suchen den Blickkontakt und haben keinerlei Hemmungen, auf meine Fragen zu antworten. Sie wollen die deutsche Sprache lernen, sie sprechen zu Hause kaum deutsch, wir sprechen darum überwiegend englisch miteinander, mit deutschen Einsprengseln.



Es wird mein erstes Konzert mit 60 Kindern auf der Bühne, die "native English speakers" sind und mit 400 Kindern bzw. Eltern im Saal, die überwiegend ebenfalls nur wenig deutsch sprechen. Das Erste, was mich überrascht, ist der Stimmklang: Sechzig hoch klingende, recht nasale Stimmen singen vom ersten Ton an begeistert mit "Die Jahresuhr", "Sommerkinder", "Macht Euch bereit", "In der Weihnachtsbäckerei" und traditionelle deutsche Weihnachts-lieder. Eine Superstimmung, auch im Saal. In der Mischung aus überwiegend englischer Moderation und deutschem Gesang wird das Konzert ein voller Erfolg. Die Basewaterkinder sind bis zum Schluss so gut drauf, dass wir uns kaum trennen mögen. Gudrun Agyropoulos hat den Chor einstudiert und ist glücklich über das gelungene Ereignis, von dem die Schulgemeinschaft noch lange sprechen wird. Die Mixed Voices prägen mit ihrem mehrstimmigen Gesang die ungewöhnliche Vielfalt der Stilrichtungen des Konzertes. Ich bin erstaunt, wie sich hochfliegende Begeisterung und konzentriertes Zuhörvermögen bei diesen Kindern ergänzen. Eine Erfahrung, die ich so in Deutschland nur selten machen konnte.

Ich habe noch eine Verabredung mit Eve Kreppert für ein ausführliches Radio-Interview, das auf einer der kleinen Stationen für Deutschaustralier ausgestrahlt wird. Hier teilen sich oft mehrere Sprachgruppen eine Radiowelle. In der Regel arbeiten die Moderatoren und Programmgestalter ehrenamtlich. Das Interesse an unserer Konzertreise ist groß, die Vorkenntnisse über meine Arbeit sind erstaunlich.

Das Abendkonzert wird zu einem fast andächtigen Zuhören und feierlichem Mitsingen der überwiegend älteren Mitglieder des "Club Tivoli". Leider vermisse ich meine Workshop-Partner vom Goethe-Institut, ich hätte sie gern mit unserem vielfältigen Repertoire und den Mixed Voices bekannt gemacht. Dafür erhalten wir zum Abschluss des Tages einen überaus positiven Brief des Kulturbeauftragten des Deutschen Generalkonsulats, Carsten Müller. Er ist sehr angetan von der brückenbildenden Kraft unseres Konzertes und von den darin enthaltenen Anregungen für das Erlernen der deutschen Sprache. Sein begeistertes Resümee unserer beiden Konzerte mündet in eine Essenseinladung für die gesamte Gruppe am folgenden Abend, die wir gerne annehmen.



Tag 9: 16. November
Ein touristischer Tag in Melbourne. Zunächst gebe ich ein ausführliches Interview auf dem Radiosender SBS, der in ganz Australien in 67 Sprachen zu hören ist. Qualitätsanspruch wie bei der Deutschen Welle, mehrere hochkarätige Mitarbeiter für jede Sprache. Danach ein Interview mit "Sigi" für den Sender "3ZZZ", der deutschsprachige Melbourner mit überwiegend volkstümlicher Musik erreicht. Ich treffe unsere Gruppe in der Museumsgalerie des Nationalmuseums von Melbourne, bestaune bei einem Stadtbummel die verschiedenen bunten europäischen und asiatischen Meilen der City (500 Meter Griechenland pur, 500 Meter Italien pur, 500 Meter China pur usw.). Ein paar Meilen weiter emsige, designergekleidete Geschäftigkeit, die aus den finanzstarken Wolkenkratzer quillt. Dieser Kontrast prägt Melbourne. Mich beeindruckt auch der Gegensatz zwischen edlen alten Häuserfassaden aus dem Anfang dieses Jahrhunderts und den zum Himmel strebenden Stahlbeton-Glaspalästen von heute.



Wie schon in Sydney fallen mir die vielen gut sortierten Buchgeschäfte auf. Wer liest hier so viel - bei so viel Sonnenschein? Oder gibt es im Südosten Australiens doch mehr Regen, als ich es dachte? Melbourne ist immerhin bekannt für seine "vier Jahreszeiten an einem Tag", wir erleben nur zwei davon: Hochsommer und Regenfrühling. Auf der Dachterrasse des "Rialto-Tower" brüllt mich in 250 Meter Höhe aus den Wolkenkratzerschluchten der geballte "Sound of the city" an.
Der Tag klingt mit der Einladung zum Abendessen vom deutschen Generalkonsul in einem Steak-House am Albert Park Lake aufs Angenehmste aus. Ich gönne mir danach noch ein Glas Rotwein bei Live-Jazz auf der Terrasse eines Restaurants in der Italienmeile unmittelbar an meinem Hotel. Bin ich wirklich in Australien?

Tag 10: 17. November
Wir fliegen nach Adelaide. Vier pieksaubere Bungalows im pieksauberen, akkurat rasengetrimmten "Marineland Holiday Village" unmittelbar am Strand erwarten uns. Gudrun hat wieder ein feines, zum Glück klimatisiertes Quartier für uns ausgesucht. Mein Tag beginnt mit zwei Workshops, die das Goethe-Institut im nagelneuen Education Centre veranstaltet. Es stellt sich wieder heraus, dass Lieder ein erfolgreicher Weg sein können, Kinder gleichzeitig zu einer Fremdsprache und in einen anderen Kulturkreis zu führen. Der Renner: "Als ich ein Baby war" und "Die Jahresuhr". Ich entschließe mich, die wesentlichen Inhalte meiner Workshops mit diesem Tagebuch ins Internet zu stellen. Vielleicht entwickelt sich daraus ein internationales Forum für alle, die Lieder-Ideen für den Sprachunterricht suchen oder die etwas ausprobiert haben und ihre Erfahrungen gern an andere weitergeben. Auch Fragen können hier gestellt und (nicht nur von mir) beantwortet werden.

Wir treffen uns zum Abendessen in einem Thai-Restaurant mit den Goethe-Partnern, einigen Lehrerinnen und Lehrern und meinem Bruder, der mir seinen Freund John vorstellt, dem das vermutlich abgedrehteste Theater Australiens gehört: "Night Train". Diese australische Variante der "Rocky-Horror-Picture-Show" werde ich am nächsten Tag besser kennen lernen.



Tag 11: 18. November
Zwei 8-Sitzer von "Dick Lang's Air Adventures" bringen uns nach Kangaroo-Island. Eines der noch weitgehend unberührten Naturparadiese Südaustraliens, was allerdings nur für die geschützten Teile der Insel gilt. Fast ehrfürchtig schauen wir uns die schlafenden und dösenden Seelöwen in der "Seals-Bay" an, verlieben uns in die Koala-Bären, die auf ihren "Gum Trees" an Stamm und Äste angeklammert schlummern. Wir kommen in der Felsenbucht der Neuseeland-Seehunde ins Schwärmen und hoffen vergeblich auf die Sichtung springender Kängurus (sehen aber leider zwei tote auf der Fahrbahn, was in Australien zum Alltag gehört).
Ich schaffe es nach dem abendlichen Rückflug gerade noch rechtzeitig zum Interview mit Dieter Fabig, der hier 5 Stunden am Tag in deutscher Sprache Radio macht. Wir werben in aller Gründlichkeit für unser Konzert am kommenden Abend. Das Missverständnis, es wäre wohl nur etwas für Kinder, wird ausgeräumt, die Mixed Voices mit ihrem vielfältigen Musik-Mix angekündigt.



Danach treffe ich meinen Bruder Pit und seinen Freund John im "Nighttrain". Ein völlig ausgeflipptes Haus, ein Besuch im kulinarischen Horrorkabinett. Die skurile Show beginnt beim Personal und bezieht alle Gäste mit ein, jeder darf hier seine Rolle spielen, in einer raffiniert ausgeklügelten Monsterkultwelt; ganze Belegschaften, Geburtstags- und Polterabendgesellschaften tun es recht hemmungslos. Wir lassen den Tag ausklingen bei einem Kaffee im Hilton, wo die besseren Töchter der Stadt gruppenweise offensichtlich auf "den Richtigen" warten.


Tag 12: 19. November
Unser Konzert im Südaustralischen Deutschen Verein beginnt wegen des frühen Rückflugs nach Sydney schon am Nachmittag. Unser erster Eindruck: Sehr deutsch dieser Club, die 50er Jahre haben dauerhaft ihre Zeichen gesetzt, aber Brigitte Kloss die erste Präsidentin seit gut 100 Jahren, will neue Akzente setzen. Wir kommen ihr da offensichtlich gerade recht. Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten sind Kinder mit Eltern im Club zu sehen, und auch die älteren Clubmitglieder freuen sich darüber. Wird hier und heute vielleicht ein Umschwung denkbar, der den Club in die nächste Generation trägt? Es kommen viel mehr Besucher als auf Grund des Vorverkaufs erwartet. Autralien, das Land der klingelnden Tageskasse? Mein Interview bei Dieter Fabig scheint zusätzlich gefunkt zu haben.

Jens Sandström aus Hamburg dirigiert seinen munteren Kinderchor der "Schule der deutschen Sprache" im Finkenwerder Fischerhemd mit rotem Halstuch und Schippermütze: Ein begeisternder Chorleiter, wie man ihn vielen Kindern wünschen möchte. Dazu ein leider überforderter Tontechniker, dennoch beste Stimmung und manche leise Träne beim tschüs sagen. Nicht zuletzt die deutschen Volks- und Weihnachtslieder im Sound der Mixed Voices tragen dazu bei. Der Aufbruch ist etwas hektisch, denn der Flieger nach Sydney ruft.



Tag 13: 20. November
Mal wieder eine Taxifahrt auf Sydney-Art. Nach der dritten Ampel hat der Fahrer im Stadtplan endlich herausgefunden, wie wir hinkommen wo wir hin müssen. Die Stadt ist mit inzwischen etwa vier Millionen Einwohnern so groß geworden, dass man wirklich nicht alle Straßen kennen kann. Aber muss man hier überhaupt Ortskenntnisse vorweisen, um eine Taxi-Lizenz zu erhalten? Ich treffe mich mit Gudrun und den Partnern von SBS-Radio zu einer technischen Vorbesprechung. Parallelen zur ARD werden deutlich, alles sehr gründlich, alles muss juristisch abgesichert sein, bis hin zur Frage, ob wir einen Mitschnitt unseres eigenen Konzertes auf CD gebrannt erhalten können.

Am Nachmittag gönne ich mir 2 Stunden Sydney von seiner, auch einen geborenen Hamburger mächtig beeindruckenden Wasserseite. Dann klettern wir alle gemeinsam über die Harbour-Bridge und zurück. Diese perfekt inszenierte Bridge-Climbing-Show ist inzwischen zur größten Touristenattraktion Australiens geworden. In grauen Monteuranzügen erleben wir, angekettet an ein durchgehendes Sicherheitsseil aus Stahl, Jackson-Mündung. Ein bitterer Kontrast: In der City, nahe dem Vergnügungsviertel Kings Cross, dringt dichter schwarzer Rauch aus einem Hochhaus. Wir fürchten, Augenzeugen einer Katrastrophe zu sein, abends erfahren wir, daß zum Glück nur ein Großtransformator des Elektrizitätswerkes gebrannt hat.



Der Tag klingt mit einem Vater-Sohn-Freund-Abendessen mit Ali und Jule am Circular Quay aus. Zwischen Harbour-Bridge und Sydneys weltberühmter Oper bei sommerlich mildem Wetter eine Seafood-Platte zu vernaschen, das hat schon was. Dass man an einem solchen Platz, der auf der Welt seinesgleichen suchen dürfte, freundlich bedient wird, bei fairen Preisen köstlich speisen kann und keinerlei Nepp-Gefühl aufkommt, auch das ist Sydney. Von der Sauberkeit der Plätze und Straßen ganz zu schweigen - Hamburg, schäm dich!

Tag 14: 21. November
Wir fahren mit vier Mietwagen zu unserem Auftritt nach Canberra, der politischen Hauptstadt des Landes. Beim ersten Abschnitt der Fahrt kommen zunächst Assoziationen an das mittlere Niedersachsen oder an die Holsteinische Schweiz auf. Erst bei der "Great Dividing Range" kann der Blick australisch weit schweifen. Der viele Regen der letzten Wochen lässt alles in ungewöhnlich satten Farben leuchten - für diese Jahreszeit, zu der sonst verdörrtes Gelb typisch sein soll. Der Mittelstreifen der Autobahn ist ein einziges Blumenmeer. Die Hauptstadt, Anfang des Jahrhunderts gegründet, weil sich New South Wales mit seiner Metropole Sydney gegen Melbourne als Hauptstadt wehrte, ist unglaublich weitläufig mit Rasenflächen, die diverse Fußballfelder bedecken könnten. Sternenförmig führen alle großen Straßen 4-spurig auf Kreisverkehre hin. Der Ausdruck nationalen Selbstbewusstseins geht vom neuen und alten Parlamentsgebäude in einer monumentalen Parkanlage aus.

Im "Harmonie-Club" mit seinem erinnerungsträchtigen Wandschmuck lernen wir wieder einiges über das Leben in den australischen deutschen Vereinen hinzu. Wenn man über die Umstände der Auswanderung in den 50er Jahren mehr erfährt, erklärt sich vieles davon besser. Werden mehr als die 15 Leute kommen, die uns der Vorverkauf meldet? Sollten wir den ohnehin etwas überforderten Tontechniker vorher auszahlen und lieber ohne Tonanlage spielen? Wir bleiben Optimisten - No worries! Der Saal füllt sich schließlich mit mehr als 100 Personen, die ein gelungenes Abendkonzert mit Überraschungen, vor allem durch die Mixed Voices, erleben. Daran haben auch die Kinder der "ACT German Language School" unter der Leitung von Suse Ilschner und Alice Kratochvil ihren Anteil. Sie sind kein gewachsener Chor, um so erfreulicher ihre Motivation, in unserer Sprache zu singen. Die Rückmeldungen nach dem Konzert gehen unter die Haut. Ein Heimatrückblick mischt sich mit Eltern-Kind-Gefühlen. Gegen elf Uhr abends fahren wir in die Nacht Richtung Kangaroo-Valley. Ein Vorhaben, bei dem die Einheimischen den Kopf schütteln. Unser Durchhalten wird belohnt mit der Sichtung einer Reihe von Wombats, die im nächtlichen Tal unseren Weg kreuzen. Wir erreichen das Schild "Feriendorf" der Vereinigung "Die Brücke" mit 5 praktischen Ferienhütten. Wie schön es hier ist können wir anhand diverser Tiergeräusche im dichten Nebel nur ahnen.



Tag 15: 22. November
Die herrliche Anlage des Feriendorfes mit Blick in den dichten Wald wird von deutschstämmigen "Brückenbauern" bewirtschaftet. "Die Brücke", Dachorganisation vieler deutscher Clubs in Australien und wichtiger Partner unserer Konzertreise, hat uns für zwei Tage eingeladen. Katharina und ihre Freundin sind die Freundlichkeit und Gastfreundschaft in Person. Sie haben einen Riesenspaß daran, ein leckeres Frühstück zu bereiten. Es entwickelt sich ein Erholungstag, den ich vor allem am Strand der Jervis Bay bei Huskisson verbringe. Der kilometerlange Traumstrand gilt, wie ich nachträglich erfahre, als strömungsgefährlich. Davon habe ich bei meinem Solo-Bad zum Glück nichts gespürt. An einem Strand, der leicht tausende von Menschen aufnehmen könnte, fast allein zu sein, gibt mir ein unverschämtes Luxusgefühl. Drei Stunden lang die Seele baumeln lassen - ich kann es nach diesem erbarmungslos ausgebuchten Herbst gebrauchen.

Der Traumtag endet mit einem aufgebrochenen Auto, Vanessas gestohlener Handtasche und einer Polizeistation, die wie alles in dieser Gegend um 6 Uhr schließt. Ganz ohne "worries" geht es eben auch in Australien nicht. Nach einem chinesischen Essen im Bowling Club stehen wir andächtig unter dem klaren südlichen Sternenhimmel. Ziemliche menschliche Wombats und Wollabies (eine kleinere Känguru-Art) machen die stockfinstere Straße unsicher. Mit einem fröhlichen Nachttrunk auf der Hüttenterasse klingt der Tag aus.



Tag 16: 23. November
Auf der Rückfahrt nach Sydney besuchen wir die "Fitzroy Falls", machen einen Bummel durch den naturgeschützten Regenwald bei Minnamurra, lassen uns vom gigantischen Pazifik-Panorama am Royal National Park zum Horizont entführen und versuchen schließlich vergeblich, eine durch Sandaufspülung neu entstandene Lagune zu entwässern.
Gegen Abend sind wir wieder in Sydney, ein inzwischen vertrautes Gefühl kommt auf. An diese Stadt kann man sich schnell gewöhnen.



Tag 17: 24. November
Der Tag beginnt für mich früh mit der Fahrt zur "Bass Hill Primary School", eine knappe Stunde raus aus der City. Ein Begrüßungsschild "Wir willkommen Rolf Zuckowski" zeigt mir an der Kreuzung des Hume Highway, dass ich hier richtig bin.
Ein etwa 11-jähriges Mädchen mit schwarz-rot-gelber Schleife im Haar begrüßt mich und möchte tragen helfen: "Ich mag Deutschland! Herzlich willkommen!" Das Mädchen hat keine familiäre Beziehung zu unserem Land, es lernt nur unsere Sprache. Ich bin überrascht von der bunt geschmückten Bibliothek, in der ich für die Kinder singen soll. Hier wird mit allen Sinnen gelebt und unterrichtet, das spürt man beim ersten Blick. Jahreszeitliche Dekoration, bemalte Fensterscheiben, gemütliche Sitzecken. Es entwickelt sich ein Vormittag zum beiderseitigen Lernen mit 120 Kindern. Endlich kann ich die erste Strophe von "Waltzing Matilda" singen. Diese australische Ersatzhymne klingt aus Kindermund erfrischend unverbraucht. Bis zum Abflug will ich alle Strophen draufhaben, wenigstens für ein paar Tage. Das Konzert macht mir besonders viel Spaß. Die australische "Jahresuhr" erscheint zunächst wenig abwechslungsreich (oder war da noch was außer Weihnachten, Geburtstag, Strand und Melbourne-Cup?). Aber man will mir schreiben, was hier sonst noch die Monate auszeichnet. Die Kinder sind sehr offen, Antworten zu geben, Vorschläge zu machen, Fragen zu stellen. Auch die Größeren lassen sich schnell auf ein Rollenspiel mit meiner Vogelhochzeit ein. Der "Zahnlückenblues" feiert seine australische Premiere.



Nach 90 Minuten gibt es noch viele kleine Gespräche, einige Erinnerungsfotos und eine leckere Käsesahnetorte. Das Mädchen, das mich begrüßte, schenkt mir noch eine kleine, aus Kreppapier gemachte Deutschlandfahne. Wann ist mir zuletzt jemand so unbefangen mit den Nationalfarben unseres Landes entgegengekommen? Ich erfahre von einer Lehrerin, dass die Aborigines dieselben Farben als Symbole haben: Schwarz für die Haut, Rot für die Erde, Gelb für die Sonne. Danke, Bass Hill! Mein erstes Konzert nur mit Schulkindern in einer anderen Sprache ist vielversprechend gelaufen. Vielleicht sollte ich die vorliegende Einladung des Goethe-Institus in Kairo bald annehmen? Würde ich dort wohl auch eine so bunte Palette von Schuluniformen sehen?

Der Nachmittag beginnt mit einer auf der Bühne des deutschen Clubs festgeschraubten überdimensionalen Narrenkappe. Ein rüder Empfang gibt uns das Gefühl, hier nur zu stören. Dabei gibt es seit März zwischen Gudrun und dem Verein schriftliche Absprachen und mehrfache mündliche Bestätigungen, aber auf der anderen Seite offensichtlich auch einige Missverständnisse zwischen Clubleitung und Geschäftsführung. No Worries? Die Mixed-Voices bauen die Narrenkappe ab, hängen unseren Vorhang über die 6 Meter breite deutsche Fahne im Bühnenhintergrund. Wir machen den vereinbarten Soundcheck, während an den Spielautomaten die älteren männlichen Stammgäste ihrem täglichen Feierabendspaß nachgehen.

Um 7pm beginnt ein heiteres, herzliches Abschiedskonzert, noch einmal mit Kindern der Johannes-Gutenberg-Schule.


Die Mixed Voices sind in Topform, SBS-Radio schneidet mit. Am Ende einige ergreifende Worte von Zuschauern und ein paar Heimwehtränen und sogar so etwas wie eine Entschuldigung des Clubmanagers - Schwamm drüber.
Freitagabend: Sydney's Business-City ersäuft im Alkohol, kann man die Arbeit in dieser Wolkenkratzer-Metropole anders nicht verkraften? Frau zeigt abends gern Schulter und macht sich chick. Auch in den Jazzclub kommt man in Freizeitkleidung nicht rein, wie unsere Nachtschwärmer erfahren müssen. Morgen gibt's für mich noch einen Workshop und dann geht's heimwärts.



Tag 18: 25. November
Ein $5-Frühstück mit Kaffee und Croissant vor dem Museum Of Sydney, dann ein Workshop, der wirklich seinen Namen verdient, mit viel Gegenseitigkeit, Information, Ideenaustausch. Ich sehe erstmals eine Lehrerin, sie sich bei der Vorstellung meiner Vogelhochzeit spontan als Küken im Vogelei auf dem Teppichboden kugelt und eine zweite, die sie behutsam ausbrütet. Eine Wettbewerbsidee des Goethe-Institus verändert sich: Aus einem Textdichter-Wettbewerb für größere Kinder, pardon "Students", wird nun vermutlich ein Wettbewerb, bei dem die Größeren etwas für die Kleineren texten. Das macht pädagogisch einen doppelten Sinn. Ich höre dankbar, dass mein Workshop ein Highlight der letzten Jahre war. Für mich war er ein australisches Highlight.
Es bleiben mir zwei Stunden Zeit für ein paar Einkäufe. Sydney bietet da wirklich viel. Für den Abend hat Gudrun eine unglaublich stimmungsvolle Fahrt mit der "Reliance" (Baujahr 1910) auf dem Jackson River arrangiert. Wir haben es geschafft, Sydney!!! Danach ein leckeres Selbstbedienungsbarbecue in einem Hafen-Restaurant, ein Bummel zur Oper mit einem Blick zur Harbour-Bridge, der nachts etwas ganz Besonderes ist. Danke, für die hervorragende Organisation und das viele Herzblut, das wir spüren durften, Gudrun!



Morgen früh gehe ich noch mit Sabine, (bekannt vom "Starke-Kinder-Cover") die uns aus Brisbane besucht, ins Aquarium von Sydney. Ali und Jule wollen lieber echt tauchen gehen, am Bondi-Beach. Wir sehen uns hoffentlich alle heil in Hamburg wieder. Bestimmt no worries!

Welche Eindrücke sind besonders nachhaltig? Der vorwärts gerichtete, selbstbewusste und doch noch immer nach Identität und gemeinsamen Ziele suchende Geist des Landes, sehr emotional eingefangen in den "Australian Anthems" von John Williamsen. Das Gefühl, ein Land zu verlassen, in dem die Hoffnung mehr zu Hause ist, als der Zweifel. Der Respekt vor denen, die den Mut hatten aufzubrechen, alles hinter sich zu lassen und unter völlig neuen Lebensumständen hier neu anzufangen, sei es aus materieller oder politischer Not oder auch aus Erlebnishunger. Die unkomplizierte australische Offenheit, die vielen positiven Gesichter. Die unverklemmte Bereitschaft zum Gespräch, auch aus der Gruppe heraus, auch von Kindern. Die wohltuend geringen sozialen Kontraste (wie lange noch?). Die sauberen Straßen und Gehwege, nicht nur an den touristischen Vorzeigepunkten.



Die Taxifahrer, die an roten Ampeln erst mal mehr oder weniger verstohlen den dicken Stadtplan von Sydney studieren mussten. Der Hotelportier, der von überwiegend japanischen Gästen lebt, aus seiner Abneigung gegenüber den asiatischen Taxifahrern kaum einen Hehl macht. Das abwechslungsreiche köstliche Essen aus aller Welt. Die endlos gleichförmigen Straßen durch nicht enden wollende Vorstadtsiedlungen und die atemberaubend schönen Landschaften und Aussichtspunkte. Das vielfach spürbare und erfolgreiche Bemühen um einen sanften Landschaftstourismus, dem eine spürbare Ehrfurcht vor unvergleichlichen Naturlandschaften des in weiten Teilen noch immer unberührten Kontinents zu Grunde liegt.

Die noch längst nicht aufgearbeitete nationale Verantwortung für die Vertreibung der Ureinwohner von ihrem angestammten Land und das noch nicht gefundene Maß für ein besseres, gerechteres Zusammenleben mit den Aborigines. Nicht zuletzt meine Verunsicherung, ob wir da oben auf der Erdkugel die richtige Weltsicht haben, ob "down under" nicht ebenso gut "top over" sein könnte.